Eine der drei heiligen Landschaften Japans – Miyajima

Es ist kurz nach Mitternacht, und ich vertreibe mir das Warten auf den Trockner mit dem Sichten der heutigen Fotos. Die Münzwaschmaschinen hier wurden wohl einzig und allein zu dem Zweck geschaffen, Gaijin zu ärgern. Egal was ich versuche, ich bekomme bestenfalls den Schweiss- und Zigarettengeruch raus, den man hier schnell in den Klamotten hat. Bereits bei einfachsten Flecken kapitulieren diese rumpelnden Höllenmaschinen, und ich kann zwei Hemden und ein T-Shirt inzwischen nicht mehr tragen. Die Trockner sorgen dann dafür, dass die hartnäckigen Kleckse in das Gewebe eingebrannt werden, denn mit japanischer Gründlichkeit wird der Stoff bei geschätzten 1200° Celsius geröstet. Immerhin, so sieht man mal Brandflecken nach einem Trockengang. Davon abgesehen wallt gerade die Schreiblust in meinen Adern. Wenn einen die Muse küsst, sollte man nicht auf die Uhr schauen. Da werden Frauen schnell unangenehm.


Der Blick auf die Insel Miyajima von der Fähre aus. Das Wahrzeichen, ein 16 Meter hohes Tori-Gate ist schön zu sehen, und wie ich später herausfinden sollte, war gerade Flut.

Nach der schwereren Kost gestern brauchte die Seele etwas Balsam, und so suchten wir die Insel Miyajima auf. Die Insel ist eine der drei berühmten Küstenlandschaften Japans, und spätestens, wenn sich die subtropisch bewaldeten Hügel vor einem erheben, weiß man, wieso die Japaner alle zu diesem Ort pilgern. Direkt nach der Landung konnte man nicht umhin, die große Warntafel zu bemerken, auf der vor den Rehen gewarnt wird. Ja, ihr habt richtig gelesen, der Küstenstreifen und die unteren Regionen inklusive der besiedelten Gebiete sind von einer ausgesprochen gelassenen Population von Rehen besiedelt. Diese wirken in der fast schon karibischen Umgebung dieser Insel etwas fehl am Platz, fühlen sich aber pudelwohl.


Die heimlichen Herrscher von Miyajima.

Die Tiere sind von den Menschen komplett ungerührt, und dank dem strikten Fütterungsverbot (an das sich die Japaner wie an alle anderen Regeln halten) sind das auch keine aufgedunsenen Kugeln wie die Exemplare in unseren Wildparks. Sie sonnen sich auf den Straßen, am Strand, und wenn ein Tourist nicht aufpasst, fressen sie seine Reisekarte. Sie haben auch einen erzieherischen Charakter, da sie kräftig zubeißen, wenn ein paar gehirnamputierte Eltern zulassen, dass ihre kleinen Monster an den Ohren der Tiere reißen.


Einer der Löwen, welche die Uferpromande bewachen. Die Rehe fühlen sich bei ihm sichtlich wohl.

Über sein Tempo musste man sich gegen Mittag keine Sorgen machen, da die Besucherströme so dicht sind, dass man automatisch zu den wichtigsten Fotografierpunkten gespült wird.


Das Standardfoto vom Tempel aus. Durch die Reflektion auf dem Wasser wirkt es, als ob das Tor schwebt.

Apropos Fotografieren: Wenn die Japaner schon keine Ironie verstehen, das Land tut es. Man hat wirklich atemberaubende Anblicke, aber egal zu welcher Tageszeit oder bei welchem Wetter, es ist immer leicht dunstig, weshalb man statt fantastischer Panoramas vernebelte Aufnahmen bekommt.


Ja, die Linse ist geputzt. Dabei wären die bewaldeten Berge eine Aussicht wie aus dem Katalog.

Da man ständig Leute vor der Kamera hat, bekommt man viele Eindrücke von den Japanern. Über das allgemeine Modebewusstsein habe ich schon geschrieben. Gut, die Designer haben es insofern einfach, weil die Frauen alle nahezu gleich groß und gleich schlank sind. Dicke Japaner sind extrem selten. Ebenfalls gefällig ist die Tatsache, dass hier nicht jede zweite Frau mit tief geschnittener Jeans herumläuft, über deren breitem Hüftgürtel der Bauch herausquillt, während beim Hocken der halbe Hintern auf Zugluft steht. Nein liebe Damen, das wird auch in hundert Jahren nicht gut aussehen. Fahrt mal nach Tokio und schaut euch an, wie man sich schick anzieht. Wer denkt ich bin hier unnötig gehässig, die zwei westlichen Touristinnen die ich gesehen habe, vergaßen beim Zeigen von viel Haut, dass die nicht einer Mondlandschaft gleichen sollte…

 
 

Die Pagode, die ich nicht gefunden habe. Näher bin ich nicht gekommen, wahrscheinlich haben die das immer abgebaut und versteckt um mich zu ärgern.

Nach den Pflichtfotos am Strand und einem kurzen Mittagessen zu Touristenpreisen ging es zur Seilbahn. Für einen verhältnismäßig saftigen Obulus ging es schwankend den Berg hinauf. Eine sympathische Dame pries die Schönheit der Berge (bei der üblichen Sichtweite von ca. 200 Metern, gepriesen seiest Du oh klare Luft unserer Alpen), den kulturellen Wert der Tempel auf dem Gipfel, und die Sicherheit der Schließfächer auf der Bergstation wegen der Affen. Eh Moment mal… Ich spulte innerlich zurück, aber ich hatte schon richtig verstanden: Während die niederen Regionen der Insel unter den eisernen Hufen des Dammwilds liegen, werden die Berghänge von Affen beherrscht, die nach ein paar Generationen Touristen gelernt haben, dass diese großen haarlosen Idioten leckere, ungesicherte Nahrung mit sich führen. Deswegen haben sich die Affen darauf spezialisiert, unachtsamen Touristen ihre Rucksäcke und Taschen zu entreißen, um diese anschließend nach Essbarem zu durchforsten.


Die Kamera habe ich sicherheitshalber am Gürtel festgebunden, aber die Beiden waren gerade mit Lausen beschäftigt.

Der Berg, Misen-Yama, ist die Fahrt wirklich wert. In der Gipfelregion befindet sich eine malerische Tempelanlage, die sich um den Schrein des ewigen Feuers verteilt. In diesem Gebäude befindet sich ein eiserner Kessel, unter dem ein Feuer aus dicken Holzscheiten schwelt. Direkt nach dem Eintreten beißt bereits der Rauch in den Lungen, der vom herben Geruch von Räucherwerk durchzogen ist. Es ist bis auf die niedrigen Flammen und einige Kerzen dunkel, und die Hitze drückt einen förmlich zu Boden. An der Wand steht eine mit Blattgold umloderte Statue, die den Heiligen darstellt, der angeblich vor 1200 Jahren dieses Feuer entzündet hat. Laut den Mönchen und dem Reiseführer brennt das seit der ganzen Zeit, ohne auch nur ein einziges Mal ausgegangen zu sein. Die Flamme, die gasgespeist im Peace Memorial Park Tag und Nacht flackert, wurde mit Feuer von dieser Stelle entfacht.


Der Tempel der ewigen Flamme. Die sollten dort Räucherschinken herstellen.

Da sowohl Max und Andi inzwischen nervös auf ihre Uhren linsten – beide wollen heute nach Tokio zurück, ging es in immer schnellerem Marsch Richtung Abstieg. Als ich am dritten schönen Aussichtspunkt vorbeigeschnauft war, stoppte ich die Karawane, übergab den Beiden meinen Zimmerschlüssel, und setzte den Weg mit einem Drittel der vorherigen Geschwindigkeit fort. Ich bin im Alltag ein etwas hektischer Mensch, und der größte Luxus, den ich mir gönnen kann, ist Ruhe. Und auch wenn ich gesellig bin, ein paar Stunden völlig allein durch die Gegend zu stapfen ist für mich ein wahrer Genuss.


Stehen bleiben, tief durch schnaufen, Blick in die Ferne und das leichte Jucken unter dem Skalp fühlen, wenn der Kopf langsam leer wird.

So schlurfte ich im Schneckentempo den Berg hinunter. Tapfere Japaner quälten sich schwitzend den Berg hinauf, und ich begrüßte alle mit einer Verbeugung und einem heiteren ‚Konitchiwa!‘. Die Wanderer waren von dem steilen Weg so fertig, dass sie sich gar nicht mehr Verbeugen mussten, da die Nasen bereits am Boden klebten. Mit einem anfeuernden ‚Ganbatte!‘ scheuchte ich sie weiter, und nach ein paar Minuten verhallte das Schnaufen dieser gequälten Seelen. Nach einer guten halben Stunde war mein hyperaktives Hirn endlich heruntergefahren. Ein Schritt, ein Atemzug. Stehenbleiben, lauschen. An sich ist ein Spaziergang in einem halbwegs dichten Wald nichts spektakuläres, denn unter dem Blätterdach gibt es nicht viel Vegetation.


Auf einem Felsen sitzen und nichts tun. Es gibt kaum was schöneres.

Überhaupt, das Wort Sightseeing sagt es bereits: Selbst wenn man keinen Badeurlaub macht, man trabt seine Zielpunkte ab und die Dokumentationswütigen haben vom ständigen Halten der Kamera nach zwei Wochen einen Tennisarm. Und vor allem: Man benutzt doch meistens nur die Augen. Ich hatte ja schon erwähnt, in einem Wald gibt es nicht viel zu sehen, aber dafür wird den anderen Sinnen sehr viel geboten. Das ging mir so durch den Kopf, und ich setzte mich auf den oben abgebildeten Felsen. Probehalber schloss ich die Augen, und konzentrierte mich voll auf die Ohren. Zuerst musste ein bisschen Sortiert werden, dann konnte ich mich Einzelheiten widmen. Das Rauschen der leichten Brise im dichten Blätterdach. Links ein enthusiastischer Singvogel, etwas weiter entfernt und hinter mir das leise Schnattern von Affen. Ein gutes Stück vorne das Plätschern eines Baches. Der Vogel hat inzwischen Konkurrenz bekommen, und es beginnt ein buntes Durcheinander von verschiedenstem Piepsen, Pfeifen und Trillern. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich die Tiere vorstellen und sie so sehen, obwohl ich sie bestimmt nie im Leben mit meinen Augen entdeckt hätte.


So ein Fels bietet eine ganze Menge, wenn man sich die Zeit nimmt.

Dann noch die Nase dazu: Der Geruch der laubbedeckten Erde, die leicht salzige Luft, das süßliche Aroma der kleinen Blüten, die sich hartnäckig unter einem Baum bewiesen und das feuchte Moos auf dem Felsen. Die Hände tasten sich über den Boden, trockenes Laub, das zwischen den Fingern krümelt, der warme, raue Fels, die knorrigen Wurzeln eines Baumes – und dann muss man die Augen öffnen. Wie in Trance erhob ich mich langsam, und schlenderte weiter. Wo ich den Wald vorher nur gesehen hatte, erlebte ich ihn jetzt. Da es langsam Abend wurde, konnte ich den Spaziergang fast eine Stunde lang in diesem vollendeten Zustand genießen, bis hinter mir ein rüstiger Engländer aufholte, dessen lautes ‚Hello!‘ den Zauber der Ruhe zerstörte. Ich murmelte ein ‚Hello‘ zurück und hoffte, dass der Zausel schnell hinter der Ecke verschwinden würde, aber mein langsames Gehen faszinierte ihn offenbar, und er fragte mich, ob mit mir alles in Ordnung sei. Im Nachhinein gesehen glaube ich, dass mein lapidares ‚Oh yes, I was just trying to enjoy my walk‘ ein wenig unhöflich war, aber wohl nicht zu sehr, da er hartnäckig im 3 Meter Abstand vor mir blieb und begeistert von der Ruhe und Abgeschiedenheit schwärmte.


Suchbild: Was fehlt? Kleiner Hinweis: Ich hatte völlig verschwitzt, dass es so etwas wie Ebbe und Flut gibt.

Insofern war ich auch nicht wirklich traurig, als der Wald sich lichtete und ich wieder am Strand gelandet war. Ich brauchte in meiner neu entdeckten meditativen Langsamkeit ungefähr eine Viertelstunde, bis ich ergründet hatte, was die ganze Zeit an mir nagte: Während der Bergwanderung hatte sich die Ebbe ganze Mühe gegeben und eine Menge Land freigegeben. Wo vorher um das große Tor ständig ein Fischerboot voller Touristen wie ein Haifisch im Kinderbecken kreiste, standen Leute im frischen Schlick und nutzten die Gelegenheit, ein paar Fotos aus der Nähe zu bekommen.


Danke liebe Gezeiten für dieses schöne kitschige Foto!

Mit meinen dicken Stiefeln konnte ich herrlich über die glitschigen Dünen stapfen, wo die zarten Halbschuhe der Japaner nicht die beste Geländetauglichkeit boten. Anschließend setzte ich mich neben ein freundliches Reh, das mir prompt die Tram-Karte aus der Jackentasche fraß, und durfte im Ausgleich den Sonnenuntergang anschauen.


Hier war der Wasserpegel weit genug unten, dass die Japaner endlich ihr ‚Ich stehe direkt dran‘ Foto machen konnten.


Ein letzter Blick von der Fähre.

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