Tag 8 + 9 Nara: Kuscheltiere und Fragebogengangs

Bereits früh am Morgen ging es weiter Richtung Nara. Ich hatte ganz vergessen, wie Nara von Nikko aus liegt, und mit allen Regionalzuegen waren wir auf einmal den gesamten Tag unterwegs, bis wir in Nara waren. Dabei hatten wir jede Menge Gelegenheit, uns im komfortablen Hochgeschwindigkeitszug auszuruhen. Die japanischen Bahnangestellten lassen etwas den Eindruck eines Bienenstocks aufkommen, da jede Aufgabe schnell und effizient ausgeführt wird. Als unser Zug am Bahnhof Tokyo noch vorbereitet wurde, wuselten Mannschaften von Reinigungsdrohnen von Wagen zu Wagen und trimmten den Zug auf den Japanischen Hygiene Standard. Das bedeutet, dass ich mir ernsthaft überlege, meine Frau bei der Geburt des ersten Kindes nach Japan zu fahren und die Geburt im Shinkansen einzuleiten, jeder normale Kreissaal ist eine Müllhalde dagegen. 

   

Erstes Testsitzen, jetzt entspannen und pressen.



Wir sind Reinigungspersonal. Widerstand ist zwecklos.

Als wir dann endlich in Nara ankamen, goss es – welch Überraschung – wieder aus allen Rohren. Ich hab’s sonst nicht so mit dem Wetter, aber in diesem Moment habe ich das doch persönlich genommen. Wir reisen bei strahlendem Sonnenschein ab, und wenn wir dann mit dem riesigen Koffer am Zielbahnhof stehen, sind die 10% Niederschlagswahrscheinlichkeit in einen Wolkenbruch ausgeartet. Nicht, dass der Koffer nicht eh schon eine Katastrophe ist. Wir haben ihn schon Judas getauft, da dieses einstige Schnäppchen aus Berlin nur in einem Punkt zuverlässig ist: Wenn man ihn bei einer besonders langen Treppe hochwuchten will, reißt auf halber Strecke der entsprechende Griff ab und eine  Kofferlawine walzt unschuldige japanische Bürger platt. Wenigstens hat der Koffer inzwischen nur noch einen Griff, danach kann  ich  aufhören so zu tun, als wuerde ich mein Gepäck beherrschen und nicht anders rum, und auf diesem Hoellending die Treppen nach unten reiten, während ich den Walkuerenritt jodle.

Im Hotel angekommen spürte Imogen, dass ich etwas benötige, um mit dem Universum meinen Frieden zu schließen. So erfragte sie, wo es etwas mit extra viel Fleisch zu essen gibt. Und in der Tat, obwohl wir auch bei dem Restaurant zuerst große Sorgen hatten, unser Geld wie beim Grillen in Tokyo zu verfeuern, da die Bedienung nicht ein einziges Wort englisch sprach, hatten wir mit Shabu-Shabu mehr Glück: Nicht nur konnten wir essen, bis wir halb gekugelt sind, sondern die Getränke waren auch noch dabei.



Shabu-Shabu ist die japanische Antwort auf Fondue. Man kocht Gemüse, Fleisch, einfach alles in dieser Schale. Die Kellner haetten sich bei meinem Anblick beinahe in die Küchenmesser geworfen, da an diesem Tag all you can eat ohne Zeitlimit war

Bitte noch ein Sake – die liebevolle Anfrage bei der Ehefrau wurde abgewiesen. War vielleicht auch besser so, sonst hatte ich mit den Fleischscheiben getanzt und die putzigen kleinen Kellner geknuddelt.

Am naechsten Morgen deckten wir uns mit einer gewaltigen Drei-Boxen-Voll-Koestlichkeiten Picknick Ladung ein. Mit dem Rucksack voller leckerem Essen machten wir uns auf den Weg zu den Tempelanlagen. Meine Frau hatte endlich die Gelegenheit, umfangreich das Wort „Kawaiiiiiiii“ zu ueben, da in der Innenstadt die ganzen Rehe aufs niedlichste Herumstanden. Gut ist ja auch nicht schwer, wenn man riesengrosse unschuldige Rehaugen hat. Mich beschäftigten eher praktische Überlegungen: gibt es bei diesem Überangebot an Wild ordentliche Rezepte, und was macht man mit den Tieren, die mit Herzverfettung einfach tot umfallen? Gibt es Kadaver-Beamte, die dafür sorgen, dass nicht traumatisierte Frauen und Schulkinder versorgt werden müssen? Bei so vielen frei laufenden Tieren, die ständig Leckereien bekommen und fetter als die sie fütternden Amerikanischen Touristen sind, muss doch immer wieder eines seinem Schöpfer gegenüber treten und mit einem zarten Mantel aus Fliegen die Luft aromatisch anreichern.

Heit gibt’s a Rehragout…



Aber wenn die dann so Süß aussehen, wird die Menueplanung von der Frau mit Todesdrohungen unterbrochen



Jung und alt holen sich ihre Dosis Niedlichkeit ab.

Nach diesem Spiessrutenlauf der Kuscheltiere kamen wir beim großen Todaij Tempel an. Das größte von Hand errichtete Holzgebaeude der Welt ist über meinen Humor hinaus erhaben und Imogen und ich haben die tolle Atmosphäre auf uns wirken lassen. Da wir gestern Abend nach meinem Sake-Fleischmassaker noch „Germanys Next Topmodel“ gekuckt hatten, probierten wir spaßeshalber ein paar der Posingtips für die Nachwuchsmodels aus. Und wir waren echt verblüfft, dass dabei wirklich geniale Fotos herauskommen, vom Unterhaltungswert für die Japaner einmal ganz abgesehen, wenn man „Jumps“, „Steps“ und „Bends“ einfordert und ablichtet.



Ein sogenannter „Jump“, also im Sprung geschossen. Meine Frau ist für mich eh die schönste, aber das sieht echt toll aus. Ach ja, berühmter Tempel im Hintergrund…



Imogen beim „Streichel wo es Dich schmerzt“ Buddha. Ich frag mich wie das rein technisch Leute mit Hämorriden machen.

Inzwischen hatte die Hautfarbe meiner Frau leicht grünliche Farbe angenommen und ihr entfuhr ab und zu ein unkontrollierbares Knurren. Das ist ein todsicheres Anzeichen für Hunger, denn wenn meine Liebste einen leeren Bauch hat, und ihre Geduld aufgebraucht ist, kann sie sich in ein Monstrum schierer Wut und Zerstörung verwandeln, vor dem sogar der unglaubliche Hulk seine geplatzten Hosen ziehen würde. Ich weiss nicht genau, wo mich heute wieder der Hafer gestochen hat, aber da wir ein grosses Picknick dabei hatten, wollte ich dieses mit Imogen auf dem Gipfel des Aussichtsberges von Nara einnehmen. Sie war ein bisschen misstrauisch, als sie den steilen Aufstieg sah, aber ich lockte sie mit der Versicherung, dass wir nach der nächsten Kurve da sind, zum Aufstieg. 

Und da waren sie wieder, meine zwei Probleme. Zum einen ist Imogen zwar sehr energetisch und unternehmungslustig, aber nicht sehr ausdauernd. Ich bin da eher wie ein Fels: Schwer ins Rollen zu bringen, aber dann eigentlich sehr zäh. Zum anderen war das romantische Bild eines Picknicks mit Ausblick so fest in meinem Hirn, dass ich übersah, dass für meine Frau Bergsteigen bei Unterzucker und Überhitzung eher unromantisch wirken. Ich versuchte, sie mit meiner guten Laune zu motivieren und als dies kläglich scheiterte, kamen die billigen Hinhaltetricks zum Zuge. Ich denke Evil Knievel muss sich ähnlich fühlen, wenn er auf einem brennenden Motorrad über eine Schlucht springt, und die Maschine immer schneller stürzt. Gerade als Imogen nicht mehr bereit war, mir zu Glauben, dass jetzt wirklich hinter der nächsten Biegung das Ziel erreicht ist, erreichten wir die Aussichtsstation. 

Nur noch ein paar Meter Schatz. Man beachte die leicht grünliche Hauffarbe meiner Frau.


„Geeeeeeehiiiiiiiiiirnnnnnn“ Imogen zwei Schritte vor dem Ziel und vier Schritte vor dem Amoklauf. Wenn ihr dumme Ideen habt, sorgt dafür, dass eure Frau einfach zu kaputt ist, um euch zu massakrieren.

L
Die Opfergaben stehen rechtzeitig bereit, die Füße sind für eine Massage freigelegt, die Frau strahlt. Perfektes Timing erfordert jahrelange Übung und starke Nerven.

Grundregel der Evolution ist Anpassung und Lernen. Da ich hoffentlich keine darwinistische Sackgasse bin, lernte ich und verzichtete auf die geplante Restbesteigung und den romantischen 12 km Spaziergang durch die malerischen Hügel Naras. Stattdessen folgte ein leichter Stadtbummel, gemütliches am See sitzen, ein leckeres Eis für die tapfere Frau und mindestens 5 absurde Kurzdialoge mit japanischen Schulkindern. 

Vielleicht erinnert sich der geneigte Leser an meine Beobachtung zum japanischen Englischtalent, oder vielmehr dem Mangel daran. Nach Jahrzehnten verschollener japanischer Touristen, die auf Englisch nicht einmal nach dem Weg fragen können, scheint die japanische Regierung gemerkt zu haben, dass eine Sprache nicht Erlernbar ist, wenn man arme Schulkinder 5 Jahre lang Textbücher lesen lässt. Da in Nara viele ausländische Touristen unterwegs sind, werden also anscheinend jetzt die armen Kinder ins Fegefeuer praktischer Übung geworfen. Wo ich vor fünf Jahren einfach nur dem gierigen Dammwild ausweichen musste, lauerten jetzt an jeder Ecke kleine Grüppchen japanischer Schüler, die einen Fragebogen auf Englisch durchgehen mussten. Die Kinder sprachen einen artig mit „Herrro“ an, was ich auch meinen Kindern empfehlen wuerde, wenn sie wildfremde doppelt so große Erwachsene treffen. Es folgte in phonetisch gutem Englisch die Frage nach dem Namen, dem Heimatland, ob man Japan mag, und ob die Kinder ein Foto mit einem machen dürfen. 

Das ganze durchliefen Imogen und ich dreimal anstandslos, bis wir uns fragten, ob die Kinder überhaupt verstehen, was wir antworten. Als Imogen auf die unschuldige Frage „Herrrro, how ale you?“ mit einem freundlichen „Fine, and how are you?“ antwortete, blickte Imogen in vier ratlose, kleine und verzweifelte Gesichter. Der Lehrer der Kleinen eilte ihnen zu Hilfe, und so quaeckten uns die Knirpse erleichtert „I am hungry, thank you“ zurück. Selbst wenn man die Frage erwiderte, wo die Kinder denn herkamen, konnten sie nicht auf das Antworten, das sie vor zehn Sekunden selbst gefragt hatten. Also im Ansatz und in der Motivation volle Punkte, aber an der Umsetzung hapert es sehr. Als Ausgleich für unsere fiesen Gegenfragen erheiterte ich die Kinder dann mit Muskelmann- und Dragonball Fotos und meinem besten radebrechenden Japanisch „Nihongo sugoi desu!“ Irgendwann konnten wir dann aber einfach nicht mehr (wir waren anscheinend die einzigen Touristen, die den Kindern antworteten und wurden wohl als Geheimtipp fürs Mindestsoll durchgereicht) und beschlossen, den Abend im Hotelzimmer ausklingen zu lassen, um den Frageschwadronen zu entkommen. Trotzdem ihr Knirpse: Ganbatte! Ihr schafft das schon noch!


Englisch hin oder her, blödeln ist internationales Kommunikationsmedium

Veröffentlicht in Flittern in Japan, Reisen.