Nara am Nationalfeiertag

Nach meinem Frühstückstee im Kloster fühlte ich mich ausgeruht und für den folgenden Tag gewappnet. Die Wahl der Route erwies sich als sinnvoll, da Nara ein perfektes Ziel für einen Tagesausflug ist: Die attraktiven Sehenswürdigkeiten sind nahezu alle auf den großen Park konzentriert, den man an einem verlängertem Nachmittag inklusive einer 3-Stündigen Tour auf den Berg absolvieren kann, dessen Name mir gerade nicht einfallen will. Der Bahnhof von Nara ist ein abscheulicher Bunker, der einen ernsthaft zweifeln lässt, ob man wirklich bei dieser Stadt angelangt ist, die sich bei den Japanern höchster Beliebtheit erfreut.
Auch das Bahnhofsviertel, in dem ich mein Quartier bezog, glänzt durch hässliche Betonklötze. Schon etwas ernüchtert bog ich in die Sanjo-Dori ein, welche mir die Dame vom Tourismusbüro am Bahnhof empfohlen hatte, und schluckte erst einmal: Die breite Allee war von Menschenmassen geradezu überschwemmt. So presste ich mich bei glühender Hitze über 2 Kilometer durch das wimmelnde Chaos – in Jacke und Pullover, die ich am Morgen in der frischen Bergluft angezogen hatte. Zur Belohnung erreichte ich endlich den Stadtpark, in dem geballt alles steht, was man in Nara gesehen haben sollte.


Schildkröten im kleinen See vor dem Stadtpark. Wen übrigens einmal eine Schildkröte verfolgt hat, der weiß, dass sie ihr Ziel unerbittlich verfolgen, und einem sehr schmerzhaft in die Zehen zwicken.

Gleich zu Beginn steht sozusagen als Wegweiser eine imposante, 5-Stöckige Pagode. Ich muss zugeben, dass ich meistens zu faul bin, mir die Jahreszahlen, den Erbauer und solche Dinge zu merken. Ich erfreue mich an der Form der Bauten und amüsiere mich immer darüber, wie die Japaner an fotogenen Stellen Schlangen bilden, damit jeder sein Bild aus dem perfekten Blickwinkel hat. Ich stehe meistens entweder zwei Meter weiter links und nehme das unverschämt andere Foto in Kauf, oder stelle mich einfach dahinter, weil ich in Kopfhöhe meistens freie Sicht habe.


Interessant an Pagoden ist, dass das Grundgerüst aus den Balken nicht fest verstrebt, sondern wie Mikadostäbchen gestapelt ist. Dadurch sind diese Gebäude sehr flexibel und überstehen Erdbeben meist unbeschadet.

Auch in Nara gibt es Hirsche (Rehe, Dammwild, was weiß ich, ich bin kein Botaniker), die aber völlig anders sind als die Herrscher von Miyajima: Nicht nur, dass es kein Fütterungsverbot gibt, nein, an jeder Ecke werden besondere Kekse verkauft, die man an die Tiere verfüttert. Das Wild ist zwar genauso zutraulich wie das auf der Insel, aber sonst sehr langweilig im Verhalten. Die braunäugigen Bettler lungern an den Wegen herum und warten darauf, dass ihnen ein Keks in den Mund gesteckt wird. Von der leicht zynischen, lässigen Art ihrer Kollegen ist da nichts mehr übrig.


Ich habe mich bewusst geweigert, die Tiere zu füttern. Damit war ich leider der einzige.

Nach einem schattigen Spaziergang durch den Park erreichte ich den Todaji-in Tempel, der das größte Holzgebäude der Welt ist, den größten Buddha der Welt (16m hoch, satte 437 Tonnen Bronze) hat und der entsprechend von Touristen bestürmt wird.


Die Straße zum Tempel. Unzählige Souvenirstände und viele, viele Leute. Wenn man wie eine Sardine eingequetscht die Straße entlang gespült wird, würde man sich am liebsten den Weg mit einem Flammenwerfer bahnen.

Dummerweise hatte ich vergessen, das am 29.04. ein nationaler Feiertag in Japan ist, und deswegen ein entsprechender Andrang herrschte. Auf der anderen Seite ist das auch eine sehr spezielle Erfahrung. An dieser Stelle möchte ich einmal ausgesprochen die Sicherheit in Japan loben. In den meisten Ländern würde es an solchen Orten vor Taschendieben nur so wimmeln, hier aber geben sich alle höchste Mühe, einander nicht anzurempeln. Im Gegenteil, ein Japaner rannte hinter einem Touristen her, entschuldigte sich mit zig Verbeugungen für die Störung, und überreichte ihm die prall gefüllte Geldbörse, die er an einem Stand verloren hatte.


Nein, das ist nicht das größte Holzgebäude der Welt. Das ist nur das Tor davor.

Trotz des Gewimmels nahm ich mir jede Menge Zeit, um das wirklich eindrucksvolle Gebäude des Todaji-in auf mich wirken zu lassen. Man kommt sich wahrhaftig winzig vor.


Geradeaus: Die Daibutsu-den, das größte Holzgebäude der Welt. Die vielen Leute fand ich hier ganz praktisch, so kommen die Ausmaße besser zur Geltung.


Und noch einmal von links, die kleinen Kleckse sind die Touristen.

Ab dem Eingangsbereich wurde der Andrang glücklicherweise etwas geringer, da meisten Japaner einen Schuss machen, und sofort weitergehen. Der Daibutsu in Kamakura war schon eindrucksvoll, aber hier spielte definitiv die Oberliga. In der gewaltigen Halle befindet sich nicht nur der große Buddha, sondern auch noch zwei goldene Statuen, die zu seiner Linken und seiner Rechten sitzen.


Der große Buddha von Nara, Weltrekordhalter und etwas zerstreut – er hat schon diverse Male seinen Kopf bei Erdbeben verloren. Auf der goldenen Scheibe befinden sich weitere Buddhas.


Sein Begleiter zu seiner Linken. Heißt… äh… großer linker goldener Buddha?


Der rechte Begleiter. Die hochinteressante Geschichte zu dieser Gottheit/erleuchteten Wesenheit kenne ich auch nicht.

Außerhalb der Halle sitzt noch einer der 16 (oder waren es 12 oder 14?) Apostel von Buddha, dem große okkulte Kräfte nachgesagt werden. Angeblich reibt man eine Stelle an ihm, und danach den gleiche Fleck an sich selbst, und die Beschwerden am entsprechenden Körperteil verschwinden. Ich versuche mir gerade nicht vorzustellen wie das bei Potenzproblemen aussieht. Da mich gerade mein Rücken plagte, rubbelte ich seinen Rücken, zog mir einen Schiefer ein, biss die Zähne zusammen, rieb meinen Rücken, und glaubt es oder nicht, schlagartig waren die Schmerzen im Kreuz wie weggeblasen. Verdutzt und überglücklich ging ich drei Schritte und saugte am Finger, in dem jetzt ein Stück der Statue steckte. Diese Distanz war leider genau die Dauer meiner wundersamen Heilung, weshalb ich den Verdacht habe, dass die wohltuende Wirkung genau so lang anhält wie das Rubbeln.


Die medizinischen Kräfte dieser Statue gibt es tatsächlich, leider ist es zu unpraktisch, das Teil ständig mit sich herum zu tragen.

Danach streunerte ich noch an ein paar Tempeln vorbei. Da ich inzwischen ziemlich verwöhnt bin, war ich schnell gesättigt und begann den Aufstieg auf den Berg Kasagu-Irgendwas (ich bin heute nicht gut mit Namen).


Es war heiß, ich habe elendig geschwitzt, aber trotzdem eine tolle Wanderung.


Geschafft! Diesen Ausblick hat man vom Gipfel des Berges.

Bemerkenswert am Aufstieg war die freie Aussicht. Die meisten Berge in Japan sind dicht bewaldet, und zwar nicht mit dieser laschen westlichen ‚Ab und zu eine Lichtung mit Ausblick‘ Attitüde, sondern konsequent vom Start bis zum Ziel dichtes Blätterwerk. Die Temperatur war mit gut 20° perfekt, und ich marschierte beschwingt den Pfad entlang. Gute hundert Meter hinter mir wanderte eine japanische Großfamilie, die vergnügt Wanderlieder trällerte. Vom Knirps bis zur Oma, die ab der Hüfte um 90° nach vorne geklappt war, legten alle ein strammes Tempo vor, das meinen weit ausholenden Gaijin-Schritten ebenbürtig war. Von der guten Laune angesteckt brummte ich leise die Melodien der Familie mit. Das ist so ein Kreuz mit mir: Musik lässt bei längerer Einwirkung ein paar Sicherungen durchbrennen, und als letztendlich der Rhythmus im Blut kochte, schnappte ich mir zwei Stöcke und begleitete den Gesang mit meinem improvisierten Instrument. Nun, man ist als Gaijin eh ein unergründliches Mysterium, weshalb die Familie lachte und weitermachte.


Der unglaubliche Rowman und sein Sidekick, ‚Ich-könnte-im-Boden-versinken‘ Girl.

Auf dem Rückweg nahm ich noch einen kleinen See mit, und wurde mit einer lustigen Geschichte belohnt. Für romantisch veranlagte Naturen wurden Ruderboote verliehen, und ein junger Japaner wollte seiner Freundin wohl ein wenig imponieren. Leider hat er in seinem Leben noch kein Ruderboot gesehen, und stocherte verzweifelt mit den Rudern im Wasser. Der Bootsverleiher gab sein bestes, die richtige Technik (vor allem das Heben des Ruders aus dem Wasser) zu vermitteln, aber unser junger Held war lernresistent.


Der Bootsverleiher versucht es nun direkt am Boot, Rowman zu erklären, dass man das Ruder aus dem Wasser heben muss. Man beachte die Freundin, die sich vor Scham den Hut über den Kopf zieht.

Nach zehn Minuten gestand der junge Mann seine Niederlage ein, setzte sich auf die Rückbank, und ließ seine Freundin die Arbeit machen.


So beeindruckt man eine Frau…

Erheitert erkundete ich noch ein wenig den Park, und passierte auf dem Rückweg eine Konditorei, bei der Publikumswirksam die bekannteste japanische Süßigkeit hergestellt wurde. Es handelt sich dabei um Reis, den man zu einer elastischen Masse drischt, Diese wird mit einer Paste aus sehr süßen Bohnen gefüllt. Hier wurde es noch traditionell gemacht: Zwei Männer droschen mit riesigen Hämmern abwechselnd in den Trog, der die Masse enthielt, und brüllten dabei laut: „Hai!“ „Dozooo!“ „Hai!“ „Dozooo!“.


Zwei Männer bei der Herstellung der beliebtesten japanischen Süßigkeit. Filigranste Konfiserie!

Abends trieb mich der Hunger – leider ohne Fotoapparat – aus dem Hotel. Das japanische Essen wird fein, aber mild gewürzt, und ich hatte starkes Verlagen nach etwas Scharfem. Nara ist nach Einbruch der Nacht wie leer gefegt, aber an einer Ecke fand ich dann doch eine japanische Currybude. Japanisches Curry ist um einiges dunkler als Indisches, und wird mit einer Vielzahl an Beilagen angeboten. Natürlich darf nie der gekochte Reis fehlen. Eine Mahlzeit ist nur dann ein Essen, wenn der Reis, Gohan genannt dabei ist. Deswegen ist in den Wörtern für die Mahlzeiten stets dieses Wort enthalten. Ein Beispiel ist Hiru-gohan, das Wort für Mittagessen.
Das Menü in dem Restaurant las sich wie eine Anleitung zu einem Videospiel, denn die Schärfe des Currys konnte von Level 1-5 frei gewählt werden. Für Absolventen des Level 5 Currys wurden noch Level 6-10 angeboten. Diese werden jedoch nur serviert, wenn man ein Level 5 Curry gegessen hat. Im Vertrauen auf meinen feuerfesten Gaumen orderte ich ein Muschelcurry mit einem zusätzlichen Tonkatsu (eine Art paniertes Schnitzel), Level 5. Der Koch zog die Augenbraue hoch, wedelte mit den Händen, hechelte und sagte ‚Vely vely hot!‘. Ich nickte zackig und bat ihn, seines Amtes zu walten. Kurz darauf stand das dampfende, duftende Gericht mit der dunkelbraunen Soße vor mir. Ich schaufelte den ersten Löffel unbedarft in mich hinein – wenn ein Japaner scharf sagt, ist das an der indischen Küche gemessen mild – und keuchte kurz, als mir die Tränen in die Augen schossen. Das Zeug war würdige Level 5 Würze, und heizte ordentlich ein. Nun gewarnt aß ich bedächtig das exzellente Curry, während der Koch immer wieder in meine Richtung schielte, um Notfalls einen Arzt zu rufen. Am Ende hatte ich eine rote Birne, aber nun war meine Neugier geweckt.
Mit dem üblichen Tanz der tausend Hände vereinbarte ich mit dem Koch einen Probeteller, auf dem ein Klecks Curry von Level 6 bis Level 10 samt einer guten Portion Reis war. Bei Schärfe ist ein festes, neutrales Gericht zum Neutralisieren extrem wichtig. Mit einem Grinsen stellte der Koch den Teller mit den immer dunkler werdenden Portionen hin. Ich schob vorsichtig den Löffel in Level 6, nahm eine Portion Reis dazu, und kostete die Mischung. Im Kontrast empfand ich bereits Level 5 als harmlos, und die Schweissperlen quollen auf die Stirn, während das Rot in meinem Gesicht eine tiefere Schattierung annahm.
Level 7, inzwischen linsten auch die Bedienungen neugierig in meine Richtung, verteilte sich wie Lava in meinem Mund und sengte über meine Geschmacksknospen. Ich fühlte mich allmählich wie ein menschliches Fieberthermometer. Level 8 war bereits so scharf, dass ich die dreifache Menge Reis benötigte, und trotzdem eine Minute hechelte. Aufgegeben habe ich bei Level 9. Von Geschmack konnte man bei diesem flüssigen Feuer nicht mehr reden, ich erwartete jeden Moment, dass sich Brandblasen auf der Zunge bilden. Mein Gesicht war inzwischen tief dunkelrot, und ich musste erst ein großes Glas Milch trinken, bis ich überhaupt wieder ein Wort sagen konnte. Mit einem angenehmen Feuer im Bauch machte ich mich auf den Weg ins Bett, wo ich herrlich schlief. Jetzt sitze ich im Zug nach Tokyo – aufgrund der langen Strecke habe ich viel Zeit zum Schreiben, deswegen ist es heute auch wieder etwas textlastig. Von dort geht es zur letzten Station, die Stadt Nikko, die für ihren Nationalpark und die prächtigen Mausoleen berühmt ist.

Veröffentlicht in Japan, Reisen.