Nächtliche Wanderungen und mein Tee mit dem Abt

Da ich gestern Nacht Bilder machen wollte, war die Organisation eines Stativs meine letzte Amtshandlung in Hiroshima. Ich trage inzwischen ständig ein Blatt Papier und einen Stift mit mir, da die Japaner hervorragend in Bilderrätseln sind. Ich zeichne zwar katastrophal, aber Kanjis sind im Endeffekt stark vereinfachte Piktogramme, und meine Zeichnung eines Stativs verstanden die Damen im Kaufhaus auf Anhieb. Leider gab es dort aber nur Kleidung, also wurde ich zwei Kilometer weiter zu einem Kamerageschäft geschickt.
Die Sonne leistete mir Gesellschaft, und dank der winzigen Schließfächer am Bahnhof wankte ich mit meinen 12 Kilo Gepäck insgesamt 4 Kilometer neben einer dicht befahrenen Straße und schnupperte den Duft der Abgase während ich im eigenen Saft gebraten wurde. Bis ich endlich im Zug nach Shin-Osaka saß, war es bereits 12. An sich war die zurückzulegende Strecke nicht groß, aber ab Osaka geht nur ein Bummelzug, der sich am Ende eingleisig die Berge hinauf quält. Bereits nach einer Stunde war ich der einzige Gast im Zug, und es dauerte insgesamt fast drei Stunden, um an die Talstation zu kommen. Von dort geht es mit einem speziellen Gebirgszug eine kurvige Strecke nach oben, die streckenweise über 70% Steigung hat. Ich war aber immer noch guter Dinge da im Reiseführer die hervorragende Tourist-Information von Koyasan gelobt wird. Oben angekommen fiel der Blick auf ein total verwaistes, winziges Bus-Terminal mit der Beschriftung ‚Bus drivers don’t speak english‘ und ein geschlossenes Tourist Information Büro, auf dem ‚We don’t make any more reservations.‘


Das flache Anfahrtstück der letzten Etappe nach Koyasan.

Da ich mir über mein Japanisch keine Illusionen mache und an diesem Flecken der Welt so gut wie niemand Englisch spricht, habe ich mich erst einmal entsprechend gefreut. Was macht man bitte, wenn man mitten im Nirgendwo ist, der letzte Zug in 15 Minuten fährt, und die Aussichten auf eine Unterkunft gelinde gesagt mau sind? Nun, ich bin ein sturer Bock und wenn ich Oku no in bei Nacht sehen will, wird das umgesetzt. Entsprechend belagerte ich das arme Bahnhofspersonal mit meinem Zettel und zeichnete und gestikulierte so lange herum, bis ein Angestellter eifrig mit seinem Finger auf eine Bushaltestelle deutete. Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte ich schon – ich weiß,das ich für die armen Leute in meiner Hartnäckigkeit anstrengend war, aber ein Japaner würde es NIE wagen, mich zum Teufel zu schicken oder in den Zug zurück nach Osaka zu stopfen. Eher wippen sie 2 Stunden auf den Ballen und rufen immer mehr Kollegen hinzu.
Langer Rede kurzer Sinn: Es gibt ein zweites Tourist Information Büro, das geschickt neben der Feuerwache im Ortskern versteckt ist. Da es um 17:30 schließt und es bereits kurz nach Fünf war, sprinteten ich und der Bahnhofsbeamte hinter dem Bus her, der gerade losgefahren war und brachten ihn mit lautem Rufen und Winken zum stehen. Das ist übrigens noch ein tolles Phänomen in Japan. Während die Münchner MVV Angestellten ein diebisches Vergnügen haben, vor der Nase die Türen zu schließen und abzurauschen, warten japanische Bus- und Tramfahrer immer, bis alle wohlbehalten an Bord sind. Da wird keiner zurück gelassen. Dafür fuhr der Bus im Schritttempo winzige Serpentinenstraßen entlang, die der Phantasie viel Raum für schreckliche Absturz-Szenarien ließen. Um 17:29 stürmte ich verzweifelt das Büro und habe doch tatsächlich noch meine Übernachtung in einem buddhistischen Tempel bekommen.


Mein Zimmer im Tempel.

Die Mönche vor Ort waren so ausgesprochen freundlich, bescheiden und höflich, dass ich gar nicht wusste, wie ich sie etwas beruhigen konnte. Mein zugewiesener Mönch, der für das Zimmer zuständig war, sprach lustiger weise besser Deutsch als Englisch. Im Ausgleich für eine halbe Stunde Deutschunterricht übte er mit mir die wichtigsten Mantras für das Morgengebet, an dem ich heute Früh teilnehmen durfte. Das war wohl der Eisbrecher, denn danach rannten die Mönche nicht mehr mit gesenktem Kopf davon, wenn sie mich erblickten, sondern zeigten mir eifrig die Kleinigkeiten, die das tägliche Leben in einem solchen Kloster ausmachen.


Das buddhistische vegetarische Abendessen. Ein Mönch leistete mir Gesellschaft.

Vom Abendessen frisch gestärkt und mit dem Stativ in der Tasche marschierte ich los, um den größten buddhistischen Friedhof Japans bei Nacht zu erkunden. Koyasan selbst ist ein charmantes kleines Städtchen, das nur zwei Arten von Häusern kennt: Tempel und Souvenirshops. Um diese Uhrzeit ist kein Mensch mehr unterwegs, die Bordsteine hochgeklappt und so hatte ich alles für mich allein.


Einer der Tempel in Koyasan bei Nacht.

Auf dem Weg übte ich fleißig mit meinem Stativ, bis ich es mit militärischer Präzision in wenigen Sekunden auf- und abbauen konnte. Endlich wurde die Besiedlung dünner, und von mächtigen Bäumen flankiert wand sich ein steinerner, von Laternen gesäumter Weg. Leider sollte sich herausstellen, dass das Licht zwar sehr stimmungsvoll war, aber nicht zum Fotografieren ausreichte. Nur an wenigen Stellen, an denen man größere Lampen befestigt hatte, konnte man zumindest Schemen aufnehmen.


Ein kleiner Tempel, der kurz vor dem Eingang von Oku no in steht.

In Oku no in gibt es zwei Wege, von denen ich auf dem Hinweg natürlich den falschen wählte: Im Abstand von 20 Metern hat die lokale Verwaltung Straßenbeleuchtung installiert, wohl um die armen Touristen davor zu schützen, ihre Zehen im Dunkeln an einem Baum zu stoßen. Dementsprechend wollte sich der mystische Zauber dieses Ortes nicht so recht entfalten, da das kalte, helle Neonlicht nicht viel Raum für Phantasie ließ. Im Rahmen des Programms für ungünstiges Timing – in Hiroshima wäre ab Samstag z.B. ein Blumenfestival, das ich wie vieles hier knapp verpasse – war der Himmel zwar Wolkenlos, aber auch Neumond. Dabei hatte ich mir das schon so malerisch ausgedacht: Ein paar kleine Wolken am Himmel, der volle Mond, der die Landschaft in silbernes Licht taucht…


Den widerwärtigen Straßenleuchten zum Trotz gab es ein paar Winkel, in denen ein schön ausgeleuchtetes Motiv gab.

Die Nekropolis von Oku no in ist wirklich riesig. Sie umfasst über 500.000 Gräber, die teils chaotisch gestapelt wirken, manchmal aber auch prachtvolle Mausoleen waren. Solch weitläufige Anlagen haben einen ganz banalen Nachteil: Man muss erhebliche Strecken zurücklegen. Da ich im Tempel viel grünen Tee zumAbendessen getrunken hatte, und zusätzlich die tolle Idee hatte,mir vor dem Abmarsch noch eine große Flasche Wasser zu genehmigen, begann allmählich die Blase zu drücken. Eine halbe Stunde später nahm ich schon kaum mehr etwas von den riesigen Bäumen war, zwischen deren gewaltigen Stämmen die unzähligen Grabsteine standen, da aus dem leichten Druck ein ziehender Schmerz geworden war. Normal gibt es gerade für einen Mann nie Schwierigkeiten, sich Erleichterung zu verschaffen, aber auf einem heiligen Friedhof einen der geweihten Bäume zu wässern wollte ich unbedingt vermeiden. Die folgenden Kilometer wurden zu einer echten Qual. Wie es sich für einen kulturell wertvollen Friedhof gehört, gab es unzählige Brunnen und Wasserspiele. Ein kleiner Bach, dessen malerisches Rauschen ich sonst gepriesen hätte, erweiterte das sadistische Konzert aus Plätschern, Gurgeln und Tröpfeln. Man kann sich sicherlich vorstellen, wie sich eine solche Geräuschkulisse auswirkt, wenn die Blase auf Melonengröße angeschwollen ist.


Oku no in bei Nacht. An dieser Stelle hätte ich meinen Fotoapparat sofort gegen ein Klo getauscht.

Was fehlt noch zum Geräusch von laufendem Wasser? Richtig, eine laue Brise, die einen streicht und die Blätter zum Rascheln bringt. Die Bäume faszinierten mich nicht mehr wegen ihrer Höhe oder ihrem Alter, sondern lockten mich, doch endlich der Qual ein Ende zu bereiten. Wille über Materie, Wille über Materie, Wille über Materie… mit diesem Mantra schleppte ich mich Schritt für Schritt an den sirenenhaften Baumstämmen vorbei. Doch da: Wie in einem Glorienschein, eine Offenbarung von allem, das in dieser Welt gut ist, entdeckte ich das Schild am Wegesrand: Toilet. Mit einem markerschütternden Triumpfgeheul stürmte ich an einem konsternierten älteren Japaner vorbei, der gerade den Ort meiner Begierde verlassen hatte, und fand in den folgenden fünf Minuten eine glückliche Leere, für die ein Buddhist jahrelang meditieren muss.

Der Weg zum Mausoleum des kosmischen Buddha. Ich war meinem persönlichen Nirvana schon sehr nahe.

Wie sich zeigen sollte, markierte dieses stille Örtchen den Wendepunkt meiner Wanderung: ein kurzes Stück weiter begann der schmale Pfad zum Mausoleum des kosmischen Buddhas, völlig ohne Leuchtstoffröhren. Im dämmrigen Licht der Laternen, die den Weg säumten (aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grund leider unfotografierbar) wand sich der Weg zwischen den mächtigen Stämmen der Pinien den Berg hinauf. Merkwürdige Tierrufe, Pfiffe und schnattern verliehen der Nacht einen friedlichen Gesang. Auch der Rückweg war komplett ohne diese abscheulicheBeleuchtung, und ich konnte so richtig in diese geheimnisvolle Welt abtauchen.


Eine Grabstätte bei Nacht.

Heute Morgen hieß es dann um 5:30 aufstehen, da ich an der Morgenzeremonie um 6 teilnehmen wollte. Als Gast durfte man auf kleinen Hockern sitzen, was man sehr zu schätzen weiß, wenn man in Japan mal zwei Stunden am Boden kauern musste. Das frühe Aufstehen hat sich gelohnt, denn die Zeremonie war ein tolles Erlebnis. Die Mönche saßen im Kreis und brummten ihre Mantras, während ein Zeremonienmeister fachkundig ein Feuer entfachte und immer wieder mit einer kleinen Kelle neue Kräuter in die Flammen warf. Die Hitze, der Duft der Kräuter und der sonore Gesang der Mönche vermischten sich, und der ganze Stress, alle Gedanken, Unsicherheiten und Sorgen lösten sich darin auf. Abgeschlossen wurde die Zeremonie mit einem Teeopfer, bei dem die Gäste der Reihe nach eine Tasse Tee für den Buddha aufstellen durften. Im Anschluss lud der Abt ein paar der Gäste, darunter mich, zum Tee ein. Wir wurden in ein winziges Teehaus mit Blick auf den Garten geführt, und schlürften mit dem geistigen Führer des Klosters köstlichen Tee, zu dem uns Süßigkeiten gereicht wurden. Der alte Mann erwies sich als lebenslustige Person mit einer guten Portion Humor, und er befragte jeden nach seiner Reise, seinen Zielen, und erteilte gute Ratschläge,während er eine uralte Katze auf seine Schoss hatte, die alle Mönche mit ausgesuchter Zuneigung behandelten. Ein Mönch, der exzellent Deutsch, Englisch und Französisch sprach, sorgte für eine reibungslose Unterhaltung, und es wurde viel gelacht und gescherzt. Schweren Herzens verabschiedete ich mich schließlich von den Mönchen, und reise als nächstes nach Nara, um dort das größte Holzgebäude der Welt zu bestaunen.

Noch ein paar Jinzo Statuen.

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